Überschreiten des Rubikon

Thursday, May 02, 2024 by Jeremy Parker

Ein Schwarz-Weiß-Foto, das eine Person als Silhouette in einem dunklenTunnel zeigt

Photo von Lalesh Aldarwish

Am Vorabend der Katastrophe

Es war der 8. Februar des Jahres zweitausendvierundzwanzig nach Christus, und die Welt war in Aufruhr.

Die Kriegstrommeln schlugen in Osteuropa und Afrika. Das Nordatlantische Bündnis sowie Russland und China funkelten sich über die Ost-West-Spaltung hinweg an, während die Spannungen zwischen den Großmächten zunahmen. Und im Mittleren Osten hatte die Grausamkeit des Menschen gegenüber seinen Mitmenschen ein solches Ausmaß angenommen, dass sich das höchste Gericht der Welt gezwungen sah, den Vorwurf des Völkermordes zu prüfen.

Die politischen Entscheidungen der westlichen Regierungen zwangen Ländern, die sich selbst für die fortschrittlichsten hielten, eine Lebenshaltungskosten-Krise auf. In zahlreichen westeuropäischen Haushalten musste man zwischen Essen und Heizen wählen.

Wenn du dachtest, dass all dies zu Protesten führen könnte, hattest du recht. Tausende von Menschen demonstrierten weltweit in Städten und forderten ein Kriegsende. In den Hauptstädten ertönten die Rufe „Waffenstillstand jetzt!“

Daraufhin forderten die Politiker, die sich von Lobbygruppen und Waffenherstellern die Taschen füllen ließen und nicht zur Rechenschaft gezogen werden wollten, immer härtere Maßnahmen gegen die Dissidenten, während ein Land nach dem anderen in Richtung Faschismus taumelte.

Die tobenden Kriege wurden zunehmend maschinell geführt, wobei genauso viel Menschenblut vergossen wurde. Der Aufstieg der Künstlichen Intelligenz bedeutete, dass Maschinen jetzt Kriege führen, Krankheiten heilen oder Chef:innen eine Nachricht schreiben, um sie zu informieren, dass man seinen Job gekündigt hat. Viele fragten sich, wo dieser technologische „Fortschritt“ enden würde. Einige fragten sich sogar, ob Maschinen eines Tages die Menschheit als die vorherrschende Lebensform auf der Erde verdrängen würden.

Und unbemerkt und kaum diskutiert ging im Hintergrund das größte Massensterben von Leben auf der Erde seit Millionen von Jahren weiter. Das Aussterben selbst erschien wie eine riesige Maschine mit endlos mahlenden Zahnrädern, deren Hebel von derselben menschlichen Rasse bedient wurde, den Architekten des Anthropozäns, in dem nun alles existierte.

Willkommen in der Meta-Krise.

Ein Cartoon, der das Konzept des 'Shifting Baseline Syndroms'illustriert. Er besteht aus drei Tafeln. Die untere Tafel mit derÜberschrift 1800 zeigt eine Unterwasserszene, in der es von Leben wimmelt -es gibt einen Wal, einen Delfin, einen Tintenfisch, einen Rochen, eineSchildkröte und viele andere Lebewesen. Die mittlere Tafel mit derJahreszahl 1950 zeigt eine ähnliche Unterwasserszene, aber mit weit wenigerPflanzen und Tieren. Die dritte Tafel mit der Bildunterschrift 2019 zeigtebenfalls eine Unterwasserszene mit sehr wenig Leben und mehreren im WassertreibendenPlastiktüten.

Illustration von Cameron Shepherd

1,5 um am Leben zu bleiben

Die Ankündigung, die an diesem Tag, dem 8. Februar 2024, gemacht wurde, blieb von vielen unbemerkt. Denn sie sorgten sich um die drohenden globalen Konflikte, trauerten um die Opfer des Imperialismus oder sorgten sich, wie sie überhaupt genug Essen auf den Tisch bringen könnten.

Es handelte sich um die Ankündigung, dass ein Grenzwert überschritten wurde, vor dem die Menschheit gewarnt worden war: Die globalen Durchschnittstemperaturen lagen ein ganzes Jahr lang um mehr als 1,5 Grad Celsius über den vorindustriellen Temperaturen.

Was wäre der Preis, den die Menschheit für die Überschreitung dieser kritischen Grenze zahlen könnte? Im besten Fall, so die Wissenschaftler:innen, würde sich unsere Existenz unwiderruflich ändern; die Folgen wären eine dauerhafte Unterbrechung der Nahrungsmittelversorgung und dass viele Millionen Menschen Zuflucht suchen müssten, da Teile der Erdoberfläche durch den Klimazusammenbruch unbewohnbar würden. Im schlimmsten Fall könnte es zu einem völligen Zusammenbruch der Zivilisation kommen, zum Aussterben der meisten Lebewesen, mit denen wir derzeit den Planeten teilen, und zu einer so hohen Zahl von Todesopfern, die die schlimmsten Gräueltaten der Geschichte weit übertrifft.

Und so konnte man an diesem Tag, als es auf den Abend zuging, vielleicht den Geist des Schriftstellers H. G. Wells heraufbeschwören:

„Es erscheint mir heute völlig unglaublich, dass alle diesen Abend so verbrachten, als wäre es ein Abend wie jeder andere. Vom Bahnhof konnte man die fahrenden Züge hören, das Klingeln und Rattern, das durch die Entfernung fast zu einer leisen Melodie wird.”

„Es schien alles so sicher und ruhig.“

Sind wir auf dem Weg ins Nirgendwo“?

Das ist also der Kontext, in dem wir diese Nachricht erhielten. Die 1,5 Grad sind also so gut wie weg. Ja, man kann Einwände gegen diese Behauptung vorbringen. Es ist ein El Niño- Jahr und es kann Schwankungen nach unten geben, die den Erwärmungstrend in den nächsten Jahren wieder unter 1,5 Grad sinken lassen. Doch letztendlich ist es mit jeder COP-Enttäuschung und der Tatsache, dass wir die vollen Auswirkungen der Treibhausgase, die von uns Menschen bereits in die Atmosphäre abgegeben wurden, noch nicht in vollem Umfang zu spüren bekommen, an der Zeit, unser Scheitern zu akzeptieren.

Und dieses Scheitern konnte leider nicht verhindert werden. Jetzt müssen wir abwägen:

  • Wie geht es im Kampf gegen Umweltzerstörung und Klimazusammenbruch weiter?
  • Werden die Machthaber letztendlich die Maßnahmen ergreifen, die sie ergreifen müssen? Und was wird sie schließlich dazu bewegen?
  • Was wird das am Ende für uns alle - für die Menschheit, für unsere Kinder und deren Kinder - bedeuten?
  • Was bedeutet 'Crossing the Rubicon' (die Überschreitung des Rubikon) für Extinction Rebellion?

Einige unserer Kolleg:innen werden damit beginnen, sich auf das Schlimmste vorzubereiten, wobei das Ziel des Überlebens nun Vorrang vor idealistischen Zukunftsvisionen hat: Deep Adaptation. Und viele unserer Kolleg:innen werden den Kampf fortsetzen, immer trotzend. Extinction Rebellion wurde in dem Bewusstsein gegründet, dass es nie eine Garantie für ein Happy End gibt. Aber das bedeutet nicht, dass wir uns jetzt abwenden werden.

Ja, es mag sein, dass dieser jüngste Rückschlag zu viel ist, um ihn zu verkraften, denn er kommt zu all dem Leid hinzu, das wir auf der ganzen Welt sehen, in Gaza, in der Ukraine, im Jemen, im Sudan, in West Papua und an vielen anderen Orten. Außerdem kommt er zur gleichen Zeit wie der beginnende Autoritarismus einer zunehmenden Zahl unserer Regierungen. Es besteht die Gefahr - und vielleicht bestand sie schon immer -, dass wir einige Menschen auf der Strecke lassen, so düster sind nun unsere Aussichten.

Wir müssen jetzt mehr denn je die das Ziel im Auge behalten, eine bessere Zukunft für alles Leben auf unserem Planeten zu schaffen.

„Es ist so wichtig, sich eine bessere Welt vorzustellen. Lass deinen Gedanken freien Lauf mit idealistischen Träumen, wie die Welt aussehen sollte, und lass den Schmerz und die Wut darüber, dass es nicht so ist, durch dich hindurchfließen. Lass deinen Geist frei und schüre deinen Zorn gegen die Maschine.

Es ist weder für dich noch für andere zu spät. Wir können morgen die Welt unserer Träume haben, aber wir müssen bereit sein, heute dafür zu kämpfen.“ - Aaron Bushnell

Dieser Kampf wird Narben hinterlassen. Und manche Narben, ob am Körper, im Kopf oder im Herzen, heilen vielleicht nicht. Trotzdem machen wir weiter. Noch erheben wir uns.

Denkt an die Worte von Greta Thunberg, „Jeder Bruchteil eines Grades zählt - und wird immer zählen“. Dies war nie ein Kampf für schwache Nerven oder für Leute, die schnell verzweifeln. Es gilt heute noch genauso wie zum Zeitpunkt der Gründung: Es gab noch nie einen besseren Zeitpunkt, sich der Rebellion anzuschließen.

Nachtrag

Unsere Zukunft ist dunkel. Das wussten wir bereits, aber jetzt sehen wir jeden Tag und mit immer größerer Klarheit, dass diese Dunkelheit auf uns zukommt.

„Ich habe keine Hoffnung, dass diese Veränderungen rückgängig gemacht werden können. Wir schicken unsere Kinder unweigerlich in ein Leben auf einem fremden Planeten. Aber das Gegenteil von Hoffnung ist nicht Hoffnungslosigkeit. Es ist Trauer. Auch wenn wir uns entschließen, den Schaden zu verringern, können wir dennoch trauern. Und hier bietet das schiere Ausmaß des Problems einen perversen Trost: Wir sind gemeinsam betroffen. Die Schnelligkeit des Wandels, sein Ausmaß und seine Unvermeidbarkeit verbinden uns zu einem Ganzen, zu gebrochenen Herzen, die unter einer sich erwärmenden Atmosphäre gefangen sind.

Wir brauchen Mut, nicht Hoffnung. Schmerz ist schließlich der Preis des Lebens. Wir alle sind dazu bestimmt, ein von Traurigkeit durchzogenes Leben zu führen, und sind deshalb nicht weniger wert. Mut ist die Entschlossenheit, es gut zu machen, ohne die Gewissheit eines Happy Ends.“ - Kate Marvel

Also trauert. Es ist in Ordnung, Traurigkeit zu empfinden. Trauert und schützt eure psychische Gesundheit. Wendet euch an eure Familie, an eure Lieben, an eure Freunde, und haltet sie in eurer Nähe.

Und denkt daran: Das eine, was über allem steht, ist Freundlichkeit und Güte.

Ultravox - Dancing With Tears In My Eyes (Official Music Video)


Über die Rebellion

extinction rebellion ist eine selbstorganisierte, dezentralisierte, internationale und politisch unabhängige Bewegung, die gewaltfreien zivilen Widerstand einsetzt, um Regierungen dazu zu bewegen, auf gerechte Art und Weise auf die ökologische Krise und den Klimanotstand zu reagieren. Die Menschen in unserer Bewegung kommen aus allen Lebensbereichen und bringen auf unterschiedliche Weise ihre Zeit und Energie ein. Wahrscheinlich gibt es eine lokale Gruppe ganz in deiner Nähe, und wir würden uns freuen, von dir zu hören. Mach mit …or erwäge eine Spende zu machen.